Es ist der berüchtigte Morgen danach. Die Uhr zeigt elf, die Sonne zwängt sich durch alle Fenster, und so langsam füllt sich der Frühstückstisch mit stöhnenden, nachdurstigen Gestalten. Die meisten von ihnen tragen Sonnenbrillen, um die Augenringe, das Vermächtnis der langen Nacht, zu verstecken. Sie versuchen, den Abend, die Cocktail-Reihenfolge und die Stücke des Bar-Piamsten zu rekapitulieren und einigen sich darauf, noch gemeinsarn gesungen zu haben: ,,Wir lagen vor Madagaskar...". Glaubt man dem Geseufze und sieht die strapazierten Gesichter, könnte man meinen, die Pest hätte hier tatsächlich Einzug gehalten. Als eine Promoterin dem zerknirschten Fury-Sänger Kai Wingenfelder mitleidsvoll eine Aspirin reicht, bekundet dieser: ,,Daran erkennt man eine gute Plattenfirma." Anlaß des rahmensprengenden Happenings vom Vorabend: Ein Vorab-Gig zum neuen Album im Fernsehstudio von Radio Bremen. ,,Es hat alles ganz gut geklappt, deshalb hatten wir ein kleines Fest", entschuldigt Keyboarder Gero Dmek den Zustand seiner Band. Während Wingenfelder den versäumten Schlaf auf einer Wiese nachholt, erklärt Christof Stein, wieso seine Gruppe von ihrem 100-Gigs-pro-Jahr-Standard nun abweicht und zu ,,Nowhere. ..Fast!" keine Tour durch große Hallen absolvieren wird: ,,Wo soll unser Ehrgeiz noch hingehen? Daß wir in Stadien spielen? Wir haben z.B. in der Hamburger Sporthalle jetzt dreimal gespielt, also brauch ich dort nicht noch ein viertes Mal zu spielen. Diese ,GrößenwahnHallen' haben einen schlechten Sound und alles ist so weit weg. Wir sind auf der Suche nach neuen Wegen, um auf Tour zu gehen."

Einen Weg haben Fury schon gefunden. So spielten sie kürzlich seit langem wieder einmal live in einem Plattengeschäft und waren begeistert. ,,Wir haben Witze erzählt und Sachen gemacht, die du in einer großen Halle einfach nicht mehr machst." Nach ihren Festival-Gigs bei ,,Rock Am Ring" und ,,Rock Im Park" Ende Mai neben BAP und Roger Hodgson von Supertramp erwägen sie für den Herbst eine Tour durch Clubs. ,,Alles", so Christof Stein, ,,ein bißchen abgespeckter und gemütlicher".

Ohnehin ist ,,Nowhere...Fast!" kein Album für eine gigantomanische Bühnenshow: Verträumt, fast schüchtern erzählen Fury von ,,Romeo & Juliet", ,,American Shame" und anöeren Tragödien und Jassen die mächtige ,,Time To Wonder"-Keule einmal im Schrank: ein überraschungsloses Fury-Album, das dem überragenden ,,Brilliant Thieves" etwas nach-steht.

,,Nowhere... Fast!" soll sagen: Die Welt dreht sich immer schneller, ohne daß irgend jemand weiß, wohin sie sich wohl bewegt. Ganz ähnlich verhält es auch mit der Band: Nach nur 14 Monaten Pause erscheint ihr neues Werk verhältnismäßig schnell und wirft einmal mehr die Frage auf, ob und wohin sie sich wohl bewegen mag.

Daß Fury - auch wenn man ihnen einen eigenen Stil längst zugestehen muß - brilliante Musik-Diebe sind, haben sie mit ihrem letzten Albumtitel freimütig zugegeben. Mit R.E.M., Sting, Cure, Metallica und Clash nannten sie in dem Titelstück zumindest ihre bekanntesten Einflüsse und nahmen - auch das nicht zufällig - den ex-Fischer-Z-Sänger John Watts und den ex-Jeremy-Days-Sänger Dirk Darmstaedter mit ins Vorprogramm ihrer vergangenen Tour.

Und so verwenden sie z.B. auch auf ,,What About Me" eine schon unzählige Male gehörte Akkordfolge und schaffen es trotzdem, damit einen sympathischen Song zu kreieren. Mit dem 80er-lastigen neuen Song ,,Digging The Soil" erweitern sie ihr Spektrum gar um Reminiszenzen an Talk Talk. ,,Du merkst bei uns relativ häufig, wer wo was gehört hat", versucht Christof Stein Einflüsse noch immer nicht zu leugnen. ,,Aber wenn einer von uns ein Stück ziemlich direkt klaut, wird es durch die Fury-Mangel gedreht, und ist danach eben nicht mehr geklaut." Entwendete Zutaten und damit verbundene Déjà-Vu-Erlebnisse sind nur das halbe Eifolgsgeheimnis der Gruppe, die das kommerzielle Erbe der einstigen Hannoveraner Lokalmatadoren Scorpions angetreten hat und deren Heavy-Rock-Posen doch weit meidet.

Gegründet durch den ,,naiven Glauben, mit Rock'n Roll Spaß zu haben", ,,etwas bewegen zu können" und der ,,Hoffnung, damit irgendwann den Kühlschrank voll zu bekommen", nahm die Gruppe schon in ihrem Gründungsjahr 1987 den Gassenhauer ,,Time To Wonder" in Eigenregie auf Shane McGowan lobte die Band ein Jahr später nach ihrem Tour-Support für die Pogues. Fury begannen, unermüdlich durch die Clubs der Nation zu touren und sicherten sich eine treue Stammhörerschaft.

Das 90er-Album ,,Jau!" enterte schließlich die Top 50, was ,,Hooka Hey" 1991 und ,,Pure Live" 1992 sogar noch zu steigern vermochten. Ein Jahr später folgte ,,Mono" mit dem MTV-rotierten ,,Every Generation Got Its Own Disease" und dem ersten Single-Chart~Ent~y ,,Radio Orchid" sowie eine USA-Tour im Voiprogramm von Meat Loaf, die wiederum eine Freundschaft und einen Video-Dreh mit Cyndi Lauper zur Folge hatte. ,,The Hearing And The Sense Of Balance" und ,,Brilliant Thieves" schlossen 1995 und 1997 bruchlos an. Was ist es, daß diese teilweise etwas dörtlich anmutende RockCombo auf MTV und Bühnen von Riesen-Hallen katapultiert hat?

Fury haben sich eines poppigen Ohrwurms stets erfreut, anstatt sich dafür zu schämen. Ihr Sound verfügt über internationalen Standard, ganz genreuntypisch hin und wieder sogar über Samples, und pendelt zwischen Old-School-Rock'n-Roll (,,Drug Addicted In The Jailhose"), groovigen Pop-Songs (,,Radio Orchid"), kitschfreien Balladen (,,Hello And Goodbye") und manchmal gar Western- (,,Reality Sucks") oder Wave- Anleihen (,,In Love With A Clown"). ,,Als wir in Amerika waren", erinnert sich Drummer Rainer Schumann, ,,konnten uns die Menschen gar nicht in eine Kategorie einstufen, was sie hebend gerne getan hätten. Sie hätten uns z.B. gerne als College-Rocker vermarktet und einige unserer Songs klingen vielleicht auch so, aber wir decken bestimmt nicht ein bestimmtes Genre ab. Das war ein Problem, aber ist eigentlich unser Markenzeichen."

Nach elf Jahren Pop-Business hat sich im Lager der Pferde-Schänder nicht nur ein Markenzeichen, sonndern auch Routine eingestellt, die u.a. durch den vorläufigen Verzicht auf eine große Tour durchbrochen werden soll. Gerade haben Fury ein anderes neues Projekt abgeschlossen: die Filmmusik für eine Abschlußarbeit an der Filmhochschule in München. Nach derzeitigem Stand werden sie bald einen zweiten Soundtrack-Auftrag annehmen und scheinen sich auch beim Schreiben von eigenem Material in einer produktiven Phase ohne absehbares Ende zu befinden: ,,Wir haben schon wieder eine halbe neue Platte liegen", verrät Christoph Stein.

Daß diese im kommenden Jahr bei einer neuen Plattenfirma, dem Industrie-Riesen EMI veröffentlicht wird, stand schon vor der Produktion von ,,Nowhere...Fast!" fest. Für drei Alben und zwei Optionen haben sich Fury an das Zuhause von Pink Floyd, New Model Army und Radiohead gebunden: ,,Wir sind jung sind und brauchen das Geld", nennt Christof Stein ohne Umschweife den Grund. Und wenn es etwas gibt, wovon Fuiy noch träumen, dann Tourneen durch Australien, Japan oder ,,auja, eine Südsee-Tour, das wäre doch was!". Dennoch stellte der rotlockige Gitarrist die Frage schon selbst: ,,Wo soll unser Ehrgeiz noch hingehen?"

Wie hält sich eine kommerziell kontinuierlich in Gipfelregionen operierende Band Ziele vor Augen? Wie sichert sie sich, nachdem sie erreicht hat, wofür sie jahrelang getourt und gekämpft hat, weitere Nervenkitzel?

Gero Drnek: ,,Du kommst bei Musik nie an den Punkt, daß du sagen kannst: ,Jetzt bin ich so gut, daß ich nichts mehr zu machen brauche.' Das macht Musik so spannend!"

Zudem erlauben sich Fury auf ihren Platten allerlei persönliche Späße, die die Gruppe mit dem bodenständigen Rock-Sound auch auf ihren Platten meist recht erdverbunden herüberkommen lassen. Sie veröffentlichen einen 20 Sekunden langen Album-Track von der Geburtstagsfeier ihres Keyboarders. Ihre Booklets sind auch vor einem nacktem Hinterteil nicht sicher. Sie schreiben einen Protest-Song gegen Euro-Beat mit dem Titel ,,Hang The DJ". Sie erwägen eigene Filmproduktionen mit dem Titel ,,Der Rock'n Roll ist entführt" und gründen Spaß-Bands mit den Namen ,,Drüsengemenge", ,,Die Beschissene Sechs" und ,,Incredible Stinking Garbage" und machen damit die Clubs ihrer Heimat Hannover unsicher. Christoph Stein ist derzeit außerdem mit der Gründung des Fußballvereins ,,Inter Vesbeck 98" beschäftigt, für den er zwar schon einen Werder-Bremen-Profi als Ehrenpräsident gewinnen konnte, aber noch Sponsoren für Tore, Netze und Bälle sucht. Furys neuster Streich: ,,Wir überlegen gerade", verrät Christof, ,,ob wir nicht als Beschissene Sechs ein schwarzes Album aufnehmen und darauf alle Titel nachspielen, in denen die Farbe schwarz vorkommt wie z.B. ,Black Velvet', ,Black Is Black' und ,Lady In Black'."

Und wenn Fury heute, am schlechten Sound und an der mangelnden Intimität von großen Hallen herumnörgelnd, daran zurückdenken, wie sie mit dem Glauben an den Spaß des Rock'n Roll in Eigenregie die Single ,,Time To Wonder" aufnahmen? ,,Wir mochten den Song. Aber daß diese Nummer uns ein Leben lang hinterherlaufen wird", meint Christof Stein, ,,war mir damals nicht klar."